Jeder Flug ist wie ein kleines Leben

Bergstation Seegrube, 1.905 Meter Seehöhe, Kaiserwetter.

Die frisch servierte Speckknödel-Suppe und das atemberaubende Panorama des Patscherkofels rücken für eine Gruppe von Touristen kurzzeitig in den Hintergrund des Interesses. Direkt neben ihnen, unweit der großen Sonnenterasse, trifft eine Pilotin mit ihrem Drachenflieger gerade die letzten Startvorbereitungen. So weit, so normal? Mitnichten!

Zwar ist die Seegrube der Flieger-Hotspot der Nordkette, fast im Minutentakt heben hier Piloten mit ihren Gleitschirmen in Richtung der rund 1.500 Höhenmeter talwärts liegenden Landeshauptstadt Innsbruck ab. Aber es sind größtenteils eben Piloten, männliche Gleitschirm-Piloten. Weibliche Fliegerinnen – und dann noch mit einem „Drachen“, einem Hängegleiter – sieht man auch hier selten. 

Alexandra „Sasha“ Serebrennikova ist derzeit vermeintlich die Beste unter ihnen. Weltweit. Die amtierende Weltmeisterin im Streckenflug nimmt ordentlich Anlauf, zischt noch ein paar Meter knapp über die saftig grünen Wiesen, bevor sie an Höhe gewinnt und ihren Flug weit über den Gipfeln genießen kann.

Nur wenige Frauen mit Drachen

„Bis man einmal in der Luft ist, ist es ziemlich anstrengend und vor allem auch logistisch nicht einfach“, betont die 39-Jährige. Die Ausrüstung wiegt etwa 50 Kilogramm. „Wenn ich starte, habe ich auf meinen Schultern noch einmal die Masse meines eigenen Körpergewichts“, sagt die zierliche Athletin. Zwar erleichterte ihr die Nordkettenbahn an diesem Tag die Auffahrt zum Startplatz, doch das Equipment ist eigentlich auch für die Gondel des bekanntesten Innsbrucker Nahverkehrsmittels zu groß. „Der Hängegleiter muss auf dem Dach der Gondel fixiert werden“, erklärt Serebrennikova, die neben dem passenden Auto auch eine entsprechende Lagermöglichkeit für den Drachen hat. „Es ist einfach so, dass unser Sport für Frauen insgesamt schwerer zugänglich ist.“ 

Beim Paragleiten ist die Einstiegshürde deutlich niedriger. Logistik, Starten, Landen – das alles ist mit einem Gleitschirm (im Rucksack) weitaus einfacher. Spitzengeschwindigkeiten von (weit) über 100 Stundenkilometern erreicht man aber nur mit dem Drachen. Dass es Serebrennikova einst vom Bergsteigen zum Drachenfliegen verschlug, hat aber nicht mit einem Verlangen nach dem Geschwindigkeitsrausch zu tun. Und auch nicht mit dem „Traum von Fliegen“, den habe sie nie geträumt, „zumindest kann ich mich nicht daran erinnern“. Vielmehr war es der Zufall, der die gebürtige Moskauerin einst in die Lüfte zog. Über ihren ehemaligen Lebensgefährten trat sie 2010 in Russland erstmals einem Flugsport-Verein bei. 

Die Liebe zum Drachenfliegen entdeckte sie wenig später auf einem „Road Trip“ durch ein paar der wichtigsten Hot-Spots des Kontinents. „Wir waren eine kleine Gruppe und sind mit dem Auto durch Europa gefahren. Ich war eigentlich nur die Fahrerin. Wenn es sich ausgegangen ist, durfte ich am Abend selbst fliegen“, lacht „Sasha“. Es war der Beginn einer Liebe, die bis heute anhält. Vor allem das „Weitfliegen“ hat es der ehrgeizigen Sportlerin schnell angetan. 

Lang und weit

In der Weihnachtswoche 2017, sieben Jahre nach ihrem ersten Flug, boten sich Serebrennikova in Australien zwei Chancen, sich in die Annalen des Drachenfliegens einzutragen. Sie nutzte die guten Bedingungen am anderen Ende der Welt bei zwei Flügen für vier neue Weltrekorde – unter anderem flog sie einen 200-Kilometer langen Dreieckskurs mit einer bis dato noch nie erreichten durchschnittlichen Geschwindigkeit von 37,40 km/h (27. Dezember 2017) und legte 408 Kilometer auf dem Weg zu einem deklarierten Ziel zurück (2. Januar 2018). Acht Stunden dauerte allein das letztgenannte Abenteuer. Ohne Training wäre das unmöglich. „Ich muss körperlich und mental topfit sein. Fliegen erfordert ein großes Maß an Fleiß und Disziplin.“

Spätestens nach den in Australien erflogenen Meilensteinen reifte in Serebrennikova die Erkenntnis, es mit Corinna Schwiegerhausen, der über viele Jahre besten Drachenfliegerin der Welt, aufnehmen zu können. 2023 bot sich bei der Weltmeisterschaft in Nord-Mazedonien dann die Chance, die mehrfache Titelträgerin aus Deutschland zu fordern. „Eine Weltmeisterschaft für Frauen gibt es nicht so oft, ich musste sehr lange auf meine Chance warten. Umso motivierter war ich. Ich bin wirklich sehr gut geflogen“ Von neun Wettkampftagen gingen fünf an Serebrennikova, die schlussendlich den WM-Titel gewann. Einen WM-Titel für Österreich! Denn seit ihrem Umzug nach Graz im Jahr 2018 startet die Russin für ihre neue Heimat.  

In Australien flog Serebrennikova über Dünen und zu neuen Weltrekorden.

Vom Labor in die Lüfte und wieder zurück

Berufliche Gründe und ihre Leidenschaft für das Drachenfliegen zogen Serebrennikova damals in die Steiermark. Als Wissenschaftlerin im Feld der physikalischen Chemie sei für sie in Russland nichts zu verdienen gewesen. „Ich wollte Wissenschaftlerin sein – und ich wollte drachenfliegen. In Österreich hatte ich bereits viele Freundschaften geknüpft, deshalb habe ich 2014 angefangen, Deutsch zu lernen und Geld zu sparen.“ Vier Jahre später erfolgte dann schließlich der Umzug. Bereut hat sie den Schritt nie. „Österreich liegt sehr zentral und das Wissenschaftsklima hierzulande ist sehr freundlich.“ 

An der TU Graz absolviert sie noch ein Master-Studium in Advanced Material Sience, ein PhD-Angebot folgte. Serebrennikova arbeitet heute Vollzeit als Materialwissenschaftlerin in einem steirischen Betrieb und forscht beispielsweise an der Optimierung von biobasierten Verpackungsmaterialien wie Holz oder Papier.

Ob die Weltklasse-Pilotin ihr Wissen auch zur Optimierung ihrer Flugleistungen einsetzen kann? „Mir hat mein Verständnis von Physik und Mechanik vor allem am Anfang sehr viel gebracht.“ Genauso viele Dinge ließen sich aber vom Flugsport ins Berufsleben transferieren. „Beim Drachenfliegen und in der Wissenschaft brauche ich immer einen Plan B. Was tue ich, wenn etwas nicht funktioniert? Worauf liegt mein Fokus als nächstes?“

Mit der sportlichen und beruflichen Gegenwart könnte Serebrennikova aktuell nicht zufriedener sein. Konkrete Vorstellungen, wohin ihre Entscheidungen sie führen würden, hatte sie nie. Eines war ihr aber immer klar: „Ich wollte ein internationales Leben führen!“ Die Wissenschaft und das Drachenfliegen gaben ihr die Möglichkeit dazu.

Nur wenige haben den Wilden Kaiser bislang aus dieser Perspektive gesehen.

„Fenster in die Welt“ führt auch zu den Sport Austria Finals

In wenigen Tagen hebt die Weltmeisterin und Weltrekordhalterin bei den Österreichischen Meisterschaften im Streckenflug ab, die im Rahmen der Sport Austria Finals powered by Österreichische Lotterien ausgetragen werden. Von Donnerstag bis Sonntag (19. bis 22. Juni) stehen hoch oben über Innsbruck insgesamt vier Tasks auf dem Programm. Gewinnen wird sie die Konkurrenz, in der Männer und Frauen gemischt antreten, nicht. „Das ist aus physischen Gründen unmöglich“, unterstreicht die Wahl-Steirerin. Doch auch als Leistungssportlerin und nach 15 Jahren in der Luft gehe es ihr sowieso nicht immer nur ums Gewinnen. „Drachenfliegen war mein Fenster in die Welt. Ich habe Menschen, Länder und Orte gesehen, die nur wenige jemals sehen. Die Fliegerei hat mir Erlebnisse geschenkt, von denen ich niemals geträumt hätte.“

Fliegen bedeute für sie auch Freiheit sagt Serebrennikova – und Lebensschule. „Jeder Flug ist wie ein kleines Leben. Start und Landung markieren Anfang und Ende. Dazwischen musst du in verschiedenen Flugphasen mit Höhen und Tiefen zurechtkommen und immer neue Strategie erlernen, wie das am besten funktioniert.“

Weitere Meldungen

Drachenfliegen leicht erklärt

Peter Siess ist als Präsident des Drachenfliegerclubs Innsbruck (DCI) nicht nur für die Durchführung der Österreichischen Meisterschaften im Streckenflug verantwortlich, sondern gehört obendrein zu den besten Athleten der Welt. Vor einem Trainingsflug nahm er sich Zeit für eine „Tour“ rund um das Sportgerät.

weiterlesen

Vorfreude auf spektakulären „Doubleheader“

Innsbruck gilt seit vielen Jahren als Kletter-Hotspot und zieht Sportler:innen sowie Zuschauer:innen gleichermaßen an, sowohl im Breiten- als auch im Spitzensport. 2025 kehrt der Kletter-Weltcup nach Innsbruck-Tirol zurück. Vom 23. bis 29. Juni 2025 werden zum fünften Mal in Folge ein Para-Climbing-, Boulder- und Lead-Weltcup im Kletterzentrum Innsbruck ausgetragen. In der Vorwoche steigt mit den Österreichischen Staatsmeisterschaften (ÖSTM) im Lead und Speed im Rahmen der Sport Austria Finals powered by Österreichische Lotterien die sportliche Generalprobe, es kommt somit zum „Doubleheader“ in der Tiroler Landeshauptstadt.

weiterlesen

Jeder Flug ist wie ein kleines Leben

Alexandra Serebrennikova ist Weltmeisterin und mehrfache Weltrekordhalterin aber nicht nur deshalb allein auf weiter Flur. Als eine der wenigen Top-Pilotinnen in der männerdominierten Drachenflieger-Szene hat sich die gebürtige Russin spätestens seit ihrem Umzug nach Graz vor fast zehn Jahren einen Namen gemacht. Im Brotberuf ist „Sasha“ Wissenschaftlerin und forscht an biobasierten Verpackungsmaterialien.

weiterlesen